Biomechanische Gutachten befassen sich mit Verkehrs-, Spiel-, Sport- und Arbeitsunfällen und daraus möglicherweise resultierenden Verletzungen. Im Speziellen wird die Belastung und die Bewegung von Fahrzeuginsassen bei Kollisionen untersucht.
Die Aufgabe des technischen Sachverständigen besteht darin, Art und Höhe der biomechanischen Belastung zu ermitteln. Besonders häufig stehen hierbei Verletzungen der Wirbelsäule („HWS-Schleudertrauma“, Bandscheibenvorfälle an HWS und LWS) zur Diskussion, jedoch auch z. B. Schulterverletzungen, Knieverletzungen oder die Auswirkungen eines fehlenden Gurtschutzes.
Das Ingenieurbüro Schimmelpfennig + Becke erstellt seit vielen Jahren interdisziplinäre Gutachten (technisch/medizinisch) im Bereich der Biomechanik. Diese interdisziplinäre Vorgehensweise bietet den Vorteil des direkten Austausches zwischen dem medizinischen und technischen Sachverständigen während der Bearbeitung. Kompetenzen aus verschiedenen Fachgebieten werden so gebündelt. Bei der gemeinsamen Bearbeitung wird im Vorfeld besprochen, welche technischen Parameter im konkreten Fall für die medizinische Beurteilung von Bedeutung sind. Informationen, die der medizinische Sachverständige bei der Befragung der Probanden, z. B. zur Sitzposition, erhält, werden an den technischen Sachverständigen weitergegeben.
Heckkollisionen
93er/97er Studie
Auf der büroeigenen Crashanlage wurden in der 93er Studie, die nur von S+B-Ingenieuren durchgeführt wurde, 14 Pkw/Pkw-Kollisionen gefahren und mit Autoscooterkollisionen verglichen. Es stellte sich heraus, dass bei Autoscooterkollisionen Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 15 km/h auftreten und die Beschleunigungsverläufe mit denen im Pkw sehr ähnlich sind. In der Studie 97 wurden, aufbauend auf den Erkenntnissen der Studie 93, weitere 17 Pkw/Pkw- und 3 Autoscooterkollisionen mit ∆v-Werten zwischen 10 und 15 km/h durchgeführt und ausgewertet. Neben S+B-Ingenieuren waren Orthopäden, Sportmediziner und Röntgenologen beteiligt.
An der Studie nahmen 19 Freiwillige im Alter zwischen 26 und 47 Jahren teil. Diese wurden vor und nach der Kollision auch im Kernspin untersucht. Trotz der hohen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ∆v von 10 bis 15 km/h konnten keine objektivierbaren Verletzungen festgestellt werden. 4 Testpersonen, alle mit mehr als ∆v = 11 km/h, äußerten für kurze Zeit leichte Beschwerden, wie Kopfschmerz und Muskelkatergefühl.
Auch in dieser Studie wurde festgestellt, dass die in Autoscootern gemessenen Beschleunigungsverläufe mit denen aus Fahrzeug/Fahrzeug-Kollisionen nahezu identisch sind.
Heckkollisionen mit modernen Fahrzeugsitzen
Da die Fahrzeugentwicklung in den letzten Jahren nicht geruht hat, stellt sich aus technischer Sicht die Frage, ob durch die modernen Fahrzeugsitze das Verletzungsrisiko, gerade in Bezug auf eine HWS-Verletzung, gesunken ist. Die 93er und 97er Studien gelten noch heute als Bezugsgrößen für die Bewertung von Heckauffahrkollisionen. Daher wurden in Versuchen Fahrzeugsitze aus der 97er Studie mit den aktuellen Nachfolgemodellen verglichen, z.B. VW Golf VII mit VW Golf II.
Es zeigte sich, dass u.a. der Extensionswinkel sowie der Beschleunigungsverlauf des Kopfes bei neuen Sitzen im Vergleich zur Insassenbelastung mit alten Fahrzeugsitzen gesunken waren.
RISP (Rear Impact Self Protection) - Schutzhaltung bei Heckkollisionen
Zur Reduzierung des Verletzungsrisikos bei Heckkollisionen sollte der Abstand zwischen Kopf und Kopfstütze minimiert werden. Gleichzeitig können Kopf- und Schulterregion in den gepolsterten Bereich der Rückenlehne gepresst werden.
Vorteile durch die Schutzhaltung (RISP) sind:
- Vorliegen einer guten Führung des Kopfes durch die Kopfstütze
- Ausbleiben einer Kollision zwischen Kopf und Kopfstütze
- Relativbewegung zwischen Kopf und Oberkörper wird minimiert
Die Verringerung der Insassenbelastung durch die Einnahme der Schutzhaltung RISP wurde anhand von Versuchen mit Probanden belegt. Verglichen wurde die Belastung bei normaler Sitzhaltung und eingenommener Schutzhaltung vor der Kollision. Die Kopfbeschleunigung eilt der Brustbeschleunigung bei RISP nur geringfügig nach. Die Maximalbelastung verringert sich von 15 g auf 10 g (g = 9,81m/s²).
Untersuchung von aktiven und passiven Kopfstützensystemen bei der Heckkollision
Um das Verletzungsrisiko des Insassen bei einer Heckkollision zu verringern, werden zunehmend Systeme mit einer ausfahrbaren Kopfstütze auf dem Markt angeboten.
Bei dem Opel Insignia wird beispielsweise die Kopfstütze durch einen Druckmechanismus im Hüftbereich ausgelöst. Hierdurch ist die Auslöseschwelle und der Grad des Ausfahrens nicht nur vom ∆v sondern auch vom Gewicht des Insassen abhängig. Das Kopfstützensystem NeckPro von Mercedes löst elektrisch aus. Befindet sich der Kopf beim Auslösen direkt an der Kopfstütze, wird der Kopf durch das Ausfahren der Kopfstütze sogar entgegengesetzt zur rückwärtsgerichteten Primärbewegung nach vorne beschleunigt.
Vorgebeugte & verdrehte Körperhaltung - unnatürliches Abknicken des Kopfes
Eine vorgebeugte und verdrehte Körperhaltung wird von Fahrzeugführern oft eingenommen, wenn aus dem fließenden Verkehr in gleicher Fahrtrichtung auf eine bevorrechtigte Straße aufgefahren wird. Frühere Studien haben gezeigt, dass ein verdrehter Kopf oder eine vorgebeugte Körperhaltung zu keinem erhöhten Verletzungsrisiko bei Heckkollisionen führen. Bei verdrehtem Kopf ändert sich der Verdrehwinkel im Kollisionsverlauf nicht und bei vorgebeugter Sitzposition wird die Belastung durch das Abrollen des Rückens an der Lehne sogar verringert.
Neue Untersuchungen zeigen jedoch, dass es durch gleichzeitiges Vorbeugen und Verdrehen des Oberkörpers und Kopfes bei der Primärbewegung zu einem unnatürlichen Abknicken des Kopfes kommen kann, da die nach hinten gerichtete Schulter die normale Abrollbewegung verhindert. Bereits bei einem ∆v von 8 km/h wird die stoßabgewandte Halsseite deutlich überdehnt.
Frontalkollision
Schlittenversuche
Zur Analyse der Bewegungskinematik und der Belastungen wurden in unserem Hause diverse Untersuchungen durchgeführt.
Zur Veranschaulichung der Schlittenversuche ist in der linken Abbildung ein männlicher Proband bei einem Schlittenversuch zu sehen. Man erkennt, das es zu einer Flexionsbewegung der Halswirbelsäule kommt. In der rechtsseitigen Abbildung ist der Bewegungsablauf einer Probandin in einem frontal belasteten Pkw bei einer Geschwindigkeitsänderung von ∆v = 11,1 km/h zu sehen. Insgesamt ist eine gute Analogie zum Schlittenversuch festzustellen.
Aus den Beschleunigungswerten folgt, dass bei den getesteten Gurtschlitten kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen zwischen 8,9 und 14,9 km/h auftraten.
Im Rahmen der Studie wurden die Gurtschlittenbetreiber befragt, ob ihnen Verletzungen von freiwilligen Teilnehmern durch die Gurtschlittentests bekannt seien, was verneint wurde.
Belastungsspuren und Gurtstraffer: War der Gurt angelegt oder nicht?
An bestimmten Stellen des Gurtsystems können Belastungsspuren auftreten, anhand derer auf eine Gurtnutzung geschlossen werden kann.
Das Auslösen der sogenannten Gurtstraffer während der Kollision sorgt für ein Anziehen des Gurtes, so dass der Insasse möglichst gut auf seiner Sitzposition gehalten wird. Ist der Gurt nach dem Unfall stramm an der B-Säule gespannt, so ist dies ein Zeichen, dass der Gurt nicht getragen wurde und die Gurtstraffer ausgelöst haben. Eigene Untersuchungen zum Gurtstraffer zeigen, dass der bei der Kollision angelegte Gurt trotz Auslösen der Gurtstraffer unter speziellen Voraussetzungen nicht arretiert bleiben muss, sondern sich teilweise wieder in der B-Säule aufrollen lässt.
Beeinflussung der Kopfbeschleunigung durch den Airbag
Aus den Fahrzeugschäden kann unter Beiziehung von Crashversuchen die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ∆v der Fahrgastzelle erarbeitet werden. In welchem Ausmaß sich die Belastung für den Insassen durch die Airbagauslösung bei ∆v-Werten auf unterschiedlichem Niveau verringert, ist bisher nicht veröffentlicht.
In Zusammenarbeit mit der Firma CTS kann durch den Einsatz sog. biofideler Dummys bei Crashversuchen die Kopf-, Brust- und Hüftbeschleunigung im Vergleich zur Zellenbeschleunigung, mit und ohne Airbagauslösung, direkt am Dummy aufgenommen und ausgewertet werden.
Studie zu schief-frontalen Anstößen
Verletzungen an der Halswirbelsäule werden nicht nur nach Heckauffahrkollisionen vorgetragen, sondern auch bei anderen Beanspruchungen, wie z.B. nach schief-frontalen Kollisionen.
Es wurden zu dieser Thematik 450 Crashtests mit 67 Freiwilligen und 2 Dummys durchgeführt. Zur Messung der Insassenbewegung kam ein hochmodernes 3D-Kamerasystem zum Einsatz. Des Weiteren wurden die Muskelaktivitäten der Probanden aufgezeichnet. Erste Analysen weisen bereits auf deutliche Unterschiede der Insassenbewegung in Abhängigkeit der Versuchsparameter hin. Die kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen betrugen 3 und 6 km/h sowie bei einigen Versuchen knapp 8 km/h.
Die Versuchsreihe hat gezeigt, dass die Sekundärauslenkung des Kopfes teilweise sogar größer ausfallen kann als die Primärauslenkung in Richtung Stoßpunkt. Bei stoßabgewandter Kollision sind daher bei ausreichender Stoßintensität Anstöße gegen den Fahrzeuginnenraum mit bspw. der Schulter oder dem Kopf bei der Sekundärauslenkung denkbar. Bei der vorläufigen Auswertung der Studien fand sich kein Hinweis darauf, dass der sogenannte Überraschungseffekt als verletzungsfördernd gewertet werden kann.
Sonderfälle
Der Überschlag
Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob der Insasse im Fahrzeug verblieb oder aus dem Fahrzeug herausgeschleudert wurde. Häufig ist aber die Frage zu beantworten, ob anhand der vorhandenen Umstände festgestellt werden kann, ob der Insasse angegurtet war oder nicht. Die vorgefundene Lage des Gurtes im Fahrzeug lässt möglicherweise eine Aussage zu, ob ein Insasse angegurtet war.
Ein Versuch hat gezeigt, dass bei einem kopfüber im Fahrzeug hängenden Insassen der Gurt trotz des wirkenden Eigengewichts des Insassen gelöst werden kann. Stützt sich der Insasse nicht zuvor am Dach ab, kommt es zu einem Aufprall des Kopfes in der Dachschale mit entsprechender Belastung der Halswirbelsäule.
Bisher konnte in Überschlagsversuchen noch nicht beobachtet werden, dass ein angegurteter Dummy aus dem Fahrzeug herauskatapultiert wurde. Der Dummy verblieb aufgrund der Haltekräfte des Beckengurtes in seiner Sitzposition. Nicht angegurtete Dummys können während des Überschlags völlig willkürlich ihre Position im Fahrzeug verändern. Wird ein Insasse nach einem Überschlag außerhalb eines Fahrzeugs vorgefunden, spricht daher viel dafür, dass er nicht angegurtet war.
Verletzungsrisiko im Fahrzeuginnenraum
Anstoßmechanismen im Innenraum & akustische Belastung bei der Kollision
Je nach Kollisionstyp sind unterschiedliche Anstoßmöglichkeiten im Fahrzeuginnenraum zu prüfen, wie bspw. Verletzungen im Rückenbereich bei einer Frontalkollision durch nicht angegurtete Fondinsassen, die von hinten gegen die Rückenlehne gedrückt werden oder ein Kopfanprall des stoßabgewandten Fahrers gegen die Innenverkleidung der Beifahrertür bei einer Seitenkollision trotz ordnungsgemäß angegurtetem Insassen.
Durch die Auswertung eines Crashversuchs mit einem biofidelen Dummy konnte gezeigt werden, dass es bei einer Heckkollision in der Reboundphase zum Kopfanprall des Insassen gegen den Fahrzeugdachhimmel bei einer normalen Sitzposition und bei normaler Körpergröße kommen kann. Mit spezieller Messtechnik ist es zudem möglich, die Druckbelastung für das Ohr durch das Kollisionsgeräusch und den Knall bei der Airbagauslösung individuell zu messen.
Dipl.-Ing. Joost Wolbers
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dipl.-Ing. Uwe Golder
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dr. rer. nat. Tim Hoger
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dipl.-Ing. Robert Dietrich
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dr. rer. nat. Jens Bastek
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dipl.-Phys. Severin Schlottbom
ö.b.u.v. Sachverständiger der IHK Nord Westfalen
Dipl.-Phys. Annika Kortmann
ö.b.u.v. Sachverständige der IHK Nord Westfalen